C. Werkmeister: Jugendkultur im „punkigsten Land der Welt“

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Titel
Jugendkultur im „punkigsten Land der Welt“. Inoffizielle Musikszenen und staatliche Kulturpolitik in der späten Sowjetunion, 1975–1991


Autor(en)
Werkmeister, Christian
Reihe
Forschungen zur osteuropäischen Geschichte (88)
Erschienen
Wiesbaden 2020: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
X, 332 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Elena Grieder, Departement Geschichte, Universität Basel

Die Sowjetunion mit Punk zu assoziieren oder gar als „punkigstes Land der Welt“ zu bezeichnen, ist auf den ersten Blick schwer vorstellbar. Durch seine Ambivalenzen ermöglichte der sowjetische Staat seinen Bürger:innen jedoch durchaus Raum für eine private Abweichung von den offiziell propagierten Lebensentwürfen. Speziell inoffizielle Jugendszenen bewegten sich in diesen Graubereichen und loteten die Grenzen zwischen behördlicher Duldung und Einschränkung aus. Christian Werkmeister untersucht in seiner auf der Dissertationsschrift basierenden Monografie eigenständige, unangepasste Jugendszenen und verdeutlicht die uneindeutige Beziehung des staatlichen Bildungs- und Kulturmonopols zu ihnen. Er untersucht die Kooperationen und Aushandlungsprozesse der inoffiziellen Musikszenen und staatlicher Kulturpolitik entlang von Zäsuren und Entwicklungen an den Fallbeispielen der sowjetischen Hauptstadt Moskau und dem litauischen Vilnius zwischen 1975 und 1991.

Mit dieser Studie reiht sich Werkmeister in verschiedene aktuelle historische Forschungen zu Jugend- und Musikszenen in der späten Sowjetunion ein. Seit geraumer Zeit wird die in der westlichen Forschung bereits Einzug gefundene Betrachtung von populärer Musik, darunter Punk, in geringerem Masse von Heavy Metal, im (post-)sozialistischen Europa in den Fokus gerückt. Dabei handelt es sich in erster Linie um Arbeiten und Überblicksdarstellungen zur Ausformung alternativer Musikgenres und Subkulturen in ihrer regionalen Ausprägung.1 Einige neuere Übersichtswerke sowie einzelne ältere Fallstudien widmen sich lokalen und regionalen Rock- und Punkszenen in Sowjetrussland und der Sowjetukraine.2 Hinsichtlich Ihrer tragenden Rolle in den Nationalbewegungen in Baltikum fand die Musik auch hier Einzug in Betrachtungen.3 Geht es im vorliegenden Werk jedoch größtenteils um die Einstellung, die die staatliche Kulturpolitik gegenüber den offiziellen und inoffiziellen Musikszenen hegte, und weniger um eine Musikstudie, bleibt auch die Betrachtung von Punk- oder Heavy-Metal-Musik selbst außen vor, was wohl auch dem ausgelesenen Quellenkorpus geschuldet ist.

Die Arbeit stützt sich auf breitgefächertes Archivmaterial zur sowjetischen Kultur- und Jugendpolitik sowie auf Bestände aus der Propagandaabteilung der KPdSU und des Komsomol. Vereinzelt geben Akten des KGBs wertvolle Einblicke in die operativen geheimdienstlichen Beurteilungen der Szenen. Ergänzend dazu beruft sich Werkmeister auf Veröffentlichungen der führenden Jugendzeitschriften und Kulturzeitungen, deren Leserbriefe wertvolle Positionen der Mitglieder und Gegner:innen der Jugendszenen zu Wort kommen lassen. Weitere Perspektiven aus der Innensicht der Szene geben die Zeitzeugeninterviews mit verschiedenen prominenten Vertretern (!); Musikern und Kulturakteuren, die diese öffentlichen Positionen kontrastieren. Leider findet sich keine Angaben zum methodischen Vorgehen und Umfang der geführten Gespräche.

Werkmeister beginnt seine Studie mit einem Abriss der sowjetischen Kulturpolitik. Sie basierte auf der Überlegenheit sowjetischer Kultur gegenüber westlicher Massenkultur sowie auf den Normen der Sittlichkeit und Konformität. Neben der praktischen Ebene führt Werkmeister das Konzept des „ungeschriebenen Gesellschaftsvertrags“ ein, der mit einer Reihe von „individuellen und kollektiven Überlebensmechanismen“ zu einem eigenmächtigen Beschaffungssystem von staatlichen Ressourcen und Vorteilen führte (S. 26). In der Herausarbeitung der unterschiedlichen Tendenzen der staatlichen Kulturpolitik und den politischen Vorgaben im Umgang mit der Jugend folgt Werkmeister einem chronologischen roten Faden, orientiert an den Amtszeiten der Generalsekretäre. Diese Gliederung unterstreicht das Argument, dass die kulturpolitischen Einstellungen maßgeblich unter den verschiedenen Parteichefs differiert haben. Die Hauptuntersuchungsorte Vilnius und Moskau schildern zwei Szenen mit jeweils regionalen Unterschieden und zeigen die Spannweite der Möglichkeiten von lokaler Umsetzung seitens politischer Vertretungen und des Engagements einzelner Akteur:innen. Ergänzt durch auch zahlreiche weitere Beispiele wird veranschaulicht, dass die zentralen politischen Vorgaben und die lokale, regionale Umsetzung teils stark voneinander abwichen.

Neben der offiziellen, vom Durchsetzungsanspruch der rigiden Kulturvorstellungen erstarrten Kultur wuchs unter Brežnev eine inoffizielle Sphäre. Sie erlaubte Freiräume, konnte jedoch nicht öffentlich rezipiert werden. Die Jugendorganisation Komsomol konnte den Bedürfnissen der von ihr repräsentierten sozialen Gruppe nicht nachkommen und musikbezogene Jugendszenen grenzten sich zunehmend von staatlichen Kulturbetrieben ab. Betont andere Musik wurde zu einer individuellen Erfahrung, die allein oder in kleinen Szenegruppen rezipiert wurde. Die Handlungsfähigkeit lokaler Kulturfunktionär:innen weitete sich aus und in einzelnen Fällen wurden Kooperationen mit Akteur:innen aus der unangepassten musikalischen Jugendszenen eingegangen. Neben der Duldung dieser Freiräume versuchte der Staat im Rahmen der sittlichen und ästhetischen, kulturpolitischen Vorgaben aktiv auf die Bedürfnisse nach „Unterhaltungsmusik“ einzugehen und förderte Ėstrada- und gemäßigte Rockensembles. Dies führte zu einer Entschärfung des Konflikts und verhinderte eine weitere Zuspitzung hin zu politischen Forderungen. Insofern war die Epoche bis 1982 geprägt durch Aushandeln, „wechselseitiges Aushalten“ (S. 109), und das bewusste Aussparen von grundlegenden Klärungen, in denen ein reibungsarmes Existieren zwischen privaten Interessen und öffentlichen Alltag zur Stabilität beitrug.

Nach dem Ableben von Brežnev beendete die neue Führung die bewusst gewährten Uneindeutigkeiten abrupt durch einschneidende und reaktive kulturpolitische Maßnahmen. Neben der zunehmenden Lenkung und Beschränkung der kulturellen Freiheiten, rigiden Verboten und schwarzen Listen ließ die Selbsteinschränkung der lokalen Vertretungen nunmehr keinen Platz für Kompromisse. Nach den zwar kurzen Amtszeiten von Andropov und Černenko blieb das Vertrauen zwischen Staat, Kulturpolitik und inoffizieller Jugendkultur jedoch nachhaltig erschüttert.

Bis sich die kulturpolitische Situation entspannte, brauchte es nach dem Amtsantritt von Gorbačëv einige Jahre. Der politisch-gesellschaftliche Wandel brachte den unangepassten Szenen neue Freiheiten, stellte sie aber auch mit marktwirtschaftlichen Prinzipien vor neue Schwierigkeiten. Erstmals war die Politik auf Kooperationen mit den inoffiziellen Musikakteurinnen und -akteuren angewiesen und ließ sich auch auf unkonventionelle Kompromisse ein. Die Veränderungen gipfelten im „Scheitelpunkt“ 1987, als die staatliche Kontrolle sich lockerte und gesellschaftliche Reformen wirkten, aber die kommerziellen Prinzipien die Musikszene noch nicht völlig umgekrempelt hatten. Heavy Metal und Punk verloren mit dem Wegfall des restriktiven Gegenpols ihre hochgradig idealistischen und gesellschaftskritischen Kerne. Die Reformen vermochten es nicht, den ehemaligen Status Quo wiederherzustellen, und der Gesellschaftsvertrag sowie das Vertrauen der Jugendszenen in die Kulturpolitik konnten nicht zurückgewonnen werden. Der Komsomol hatte seine Rolle als Erzieher und Mittler zwischen Jugend und Politik fast gänzlich eingebüßt. Die Darstellung schließt Werkmeister mit einem Ausblick auf die Kulturpolitik und Musikszenen nach 1992 ab, die sowohl für Litauen als auch für Russland zwar grundlegend andere, jedoch nachhaltige Folgen hatte.

Nimmt sich die Betrachtung zur Aufgabe, die regionalen Unterschiede herauszuarbeiten, hätten die unterschiedlichen Voraussetzungen, Entwicklungen und Bedeutungen der alternativen Rockszenen noch separater hervorgehoben und veranschaulicht werden können. Auch detaillierte Angaben zu den Angehörigen und der Zusammensetzung der betrachteten Jugendszenen fehlen, es bleibt eine größtenteils ungreifbare Masse. Eindrucksvoll demonstriert die Publikation aber die grundsätzliche Heterogenität des spätsozialistischen Jugendalltags und die wiederholt verwischten Grenzen zwischen der Untergrundszene und der offiziellen Kultur. Sie veranschaulicht die Aushandlungsprozesse in einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Ansprüche, Ideale und Interessen der Partei, des Komsomol, der Jugend und musikalischen Akteur:innen unter den stetig wechselnden Bedingungen der Politik und gibt damit einen wertvollen Einblick in die Alltagsgeschichte der späten Sowjetunion. Christian Werkmeisters umfangreiche Darstellung der heterogenen Kulturpolitik dieser Zeit hinsichtlich der jeweiligen Vorgaben und Herausforderungen zeichnet ein vielschichtiges Gesamtbild, welches auch für weitere Studien zu Jugendszenen und alternativen Lebensentwürfen sowie zur inoffiziellen Kultur produktiv sein wird.

Anmerkungen:
1 David MacFadyen, Red Stars. Personality and the Soviet Popular Song 1955–1991, Montreal 2001; Jan Blüml u.a. (Hrsg.), Popular Music in Communist and Post-Communist Europe, Berlin 2019; Juliane Fürst, Flowers through Concrete. Explorations in Soviet Hippieland, Oxford 2021.
2 Ivan Gololobov / Hilary Pilkongton / Yngvar Steinholt (Hrsg.), Punk in Russia. Cultural Mutation from the ,Useless’ to the ,Moronic’, London 2014; Sabrina Ramet, Rocking the State. Rock Music and Politics in Eastern Europe and Russia, Boulder 1994; Stefan Riermaier (Hrsg.), Heavy Metal aus Osteuropa, Berlin 2003; William Risch, Youth and Rock in the Soviet Bloc. Youth Cultures, Music, and the State in Russia and Eastern Europe, Maryland 2015; Sergei Zhuk, Rock and Roll in the Rocket City. The West, Identity, and Ideology in Soviet Dniepropetrovsk, 1960–1985, Baltimore 2017.
3 Beispielsweise Guntis Šmidchens, The Power of Song. Nonviolent National Culture in the Baltic Singing Revolution, Seattle 2014.

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